Am 09.09.2023 ist die langjährige Ordinaria des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Gisela Freund, in Erlangen verstorben. Sie hatte von 1969 bis 1987 den Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte an der FAU inne und hat sowohl während dieser Zeit, als auch Jahrzehnte davor und danach die Paläolith-Forschung in Deutschland und weit darüber hinaus geprägt.
Gisela Freund studierte von 1940-1944 die Fächer Urund Frühgeschichte, Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte, Geografie und Paläontologie an den Universitäten Greifswald, Breslau und Prag und schloss ihr Studium mit einer unveröffentlicht gebliebenen Promotion über die Blattsitzen von Předmost bei Lothar Zotz an der Deutschen Karls-Universität im besetzten Prag ab. Unmittelbar nach ihrer Ernennung zur Assistentin am dortigen Institut für Ur- und Frühgeschichte musste sie aus Prag fliehen. Ab 1946 begann die an der Universität in Marburg an ihrer Habilitation mit dem Titel „Die Blattspitzen des Paläolithikums in Europa“ zu arbeiten. Ihre Habilitation erfolgte dann 1949 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), wo sie seit 1947 zunächst außerplanmäßige, später auf einer Planstelle Assistentin von Lothar Zotz am Institut für Ur- und Frühgeschichte war.
Gisela Freund war zu diesem Zeitpunkt (und bis weit in die 1960er-Jahre hinein) eine der ganz wenigen Frauen im deutschen Sprachraum, die im Fach Ur- und Frühgeschichte habilitiert wurden; an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg war sie 1950 überhaupt die erste Frau, die nach einem ordentlichen Habilitationsverfahren zur Privatdozentin ernannt wurde. Nachdem sie an ihrer Alma Mater zur außerordentlichen Professorin ernannt worden war, erhielt sie 1969 einen Ruf an die Universität nach Hamburg, den sie zugunsten ihrer Berufung im selben Jahr auf den Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Nachfolge Zotz) ablehnte. Zum Zeitpunkt ihrer Ernennung zur Ordinaria war sie die erste ordentliche Professorin an der Erlanger Philosophischen Fakultät. Bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1987 war sie zudem die einzige Frau in Deutschland, die im Fach Ur- und Frühgeschichte eine C4-Stelle bekleidet hat.
Gisela Freund verdankt ihren außerordentlichen Erfolg ihrer geradezu legendären Disziplin, ihrem herausragenden Überblickswissen und ihrer Hingabe an die Details, gepaart mit einem schwer zu erreichenden Perfektionismus. Sie war eine vorzügliche Kennerin der eurasischen Altsteinzeit und auf die Analyse von Steinartefakten spezialisiert; am Erlanger Institut war sie jedoch dafür bekannt, in der Lehre alle urgeschichtlichen Perioden bis zum Ende der Eisenzeit kompetent zu vermitteln. Große Teile ihrer Forschung waren dagegen dem Mittelpaläolithikum gewidmet. Im Rahmen ihrer Dissertation hat sie sich intensiv mit dem Phänomen des gehäuften Auftretens von Blattspitzen am Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum in Mitteleuropa beschäftigt und das Phänomen von flachen, besonders sorgfältig flächenretuschierten Spitzen über ganz Europa hinweg verfolgt. Der von ihr geprägte Terminus des „Prä-Solutréen“ hat sich nicht durchgesetzt, wird aber verständlich, wenn man den Forschungsstand zu Beginn ihres Habilitationsvorhabens berücksichtigt. Obwohl H. Obermaier und P. Wernert bereits vor dem 1. Weltkrieg darauf hingewiesen hatten, dass die von ihnen definierten Blattspitzen in ein spätes Altpaläolithikum (entspricht dem heutigen Mittelpaläolithikum) gehören, wurden Blattspitzen u.a. in Ungarn, aber auch an bayerischen Fundstellen wie den Ofnet-Höhlen, von zahlreichen anderen Forscher:innen irrtümlich dem jungpaläolithischen Solutréen zugerechnet. Die von Gisela Freund vorgenommene Einstufung an das Ende des Mittel- bzw. an den Beginn des Jungpaläolithikums hat sie mit der pointierten Bezeichnung „Prä-Solutréen“ auf den Punkt gebracht: ihr ging es vor allem darum zu betonen, dass es sich eben nicht um ein mittleres Jungpaläolithikum französischer Prägung handelt, für das auch weiterhin überzeugende Belege für ein Vorkommen außerhalb von Frankreich fehlen, sondern um ein spätes Mittelpaläolithikum. Inwieweit auch eine Opposition zu bereits existierenden Benennungen solcher Inventare wie der „Altmühlgruppe“ von A. Bohmers, der als Mitglied der SS-Organisation „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ vor dem 2. Weltkrieg Ausgrabungen in den Weinberghöhlen bei Mauern durchgeführt hatte, vorlag, lässt sich nicht mehr klären. Fakt ist, dass seine Arbeiten von Gisela Freund vehement abgelehnt wurden. Rückblickend ist neben der Richtigstellung der chronologischen Position der spätmittel- bis frühjungpaläolithischen Blattspitzenkomplexe ebenfalls von Interesse, dass sie bereits in ihrer Habilitation auf deren große Variabilität sowie die Konstanz der Anwendung der Flächenretusche bis in das Neolithikum verwiesen hat, ohne das unmittelbare Kontakte oder Traditionen vorliegen müssen. Vor dem Hintergrund der neuesten Forschungsergebnisse zur Paläogenetik aus Ranis, die sowohl die schlanken Jerzmanowice-Spitzen als auch die breiten Blattspitzen dem modernen Menschen zuschreiben, ist weiterhin erwähnenswert, dass Gisela Freund von einem „Proto-Homo sapiens“ als Träger ihres Prä-Sloutréen ausgegangen ist.
Zu ihren immer vorsichtig abwägenden Ansprachen der Steinartefakte passt, dass sie die Funde immer auch quellenkritisch in ihrem stratigraphischen und sedimentologischen Kontext betrachtet hat. Viele Sediment-Analysen hat sie – teilweise im Labor der Universität in Tübingen – selbst durchgeführt und deren Ergebnisse zusammen mit – wo immer möglich – eigenen Geländebeobachtungen in detaillierten Analysen der Sedimentationsprozesse zusammengeführt. Beispielhaft hierfür sei ihre Arbeit zu „Sesselfelsgrotte 1. Grabungsverlauf und Stratigraphie“ genannt, die man auch heute noch als eine wichtige Arbeit zum weiterhin hochaktuellen Themenkomplex des „Site Formation Process“, d.h. der Fundplatzgenese zählen kann. Ihr Bestreben, ihre eigenen Kenntnisse ständig zu verbessern, spiegelt sich auch in ihren regelmäßigen Besuchen der Grabungen von H. Movius im Abri Pataud in den 1960er Jahren, die mit ihrem Bestreben, natürliche Schichtoberflächen freizulegen, wegweisend waren. Später hat sie u.a. bei der Untersuchung der Steinartefakte aus der Obernederhöhle sehr früh den Ansatz der Werkstückmethode, der spätere Untersuchungen an den fundreichen mittelpaläolithischen Schichten der Sesselfelsgrotte maßgeblich leiten sollte, angewendet. Im Zentrum ihres forscherischen Schaffens standen ohne Zweifel ihre Ausgrabungen in der Sesselfelsgrotte und deren Auswertung. Mit der bis heute sieben Bände umfassenden Reihe, die sie als Herausgeberin redaktionell bis zum fehlerfreien Druck betreute, hat sie Grundlegendes geschaffen und hinterlassen. Andere von ihr monographisch vorgelegte Arbeiten, wie etwa zur Höhlenruine von Hunas, zu den mittelpaläolithischen Funden aus dem Regensburger Raum oder zur Obernederhöhle, hat sie zwar mit der gleichen Akribie verfasst bzw. editiert, aber immer betont, dass deren Fertigstellung auch Verpflichtungen gegenüber früh verstorbenen Mitautoren bzw. Mitherausgebern war.
Neben der Lehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ihren auch nach ihrer Emeritierung 1987 intensiv weiter betriebenen Forschungen nicht nur in Bayern, sondern auch in Indien sowie Nepal, war sie fast ihr gesamtes Leben intensiv in fachlichen Institutionen engagiert. Als Gründungsmitglied war sie bis 1997 zunächst als Schriftführerin, später als langjährige Vizepräsidentin Vorstandsmitglied der Hugo Obermaier-Gesellschaft für Erforschung des Eiszeitalters und der Steinzeit. Bis zu ihrem Tod hat Gisela Freund mit großer intellektueller Klarheit an der Entwicklung des Instituts und der dortigen Forschungen Anteil genommen. Als Emerita unterhielt sie ein Arbeitszimmer, um die Arbeiten an den bis zu ihrem Tod redaktionell betreuten Sesselfelsgrotte-Bänden zu organisieren, die Manuskripte durchzuarbeiten und die Druckfahnen zu kontrollieren. Solange im Fach lehrend und forschend aktiv, war Gisela Freund für ihren eher formal-korrekten Umgang mit den meisten Kollegen:innen und einer recht hierarchischen Behandlung der Studierenden bekannt. Man darf und muss davon ausgehen, dass dies auch der Tatsache geschuldet war, dass sie sich in einer Männerwelt durchsetzen und behaupten musste. Andere Seiten ihres Charakters wie ihre humorvolle Art und ihre Großzügigkeit, die sich u.a. in der Begründung der Gisela Freund-Stiftung an der FAU ausgedrückt hat, mögen vielen Altersgenossen:innen und Fachkollegen:innen außerhalb des Erlanger Instituts und den meisten Studierenden aus den oben genannten Gründen verborgen geblieben sein.
Die letzten mehr als 10 Jahre, in denen sich das jetzige Kollegium des Instituts für Ur- und Frühgeschichte an der FAU zusammengefunden hat, waren geprägt von gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Unterstützung, dem Interesse an den wissenschaftlichen (Publikations-)Vorhaben des jeweils anderen und einem harmonischen Miteinander. Die Mitarbeiter:innen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte werden Prof. Freund vermissen.
Buch-Veröffentlichungen
Freund, G. 1952: Die Blattspitzen des Paläolithikums in Europa. Quartär-Bibliothek 1. Bonn.
Freund, G. 1963: Die ältere und die mittlere Steinzeit in Bayern. Jahresber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 4.
Zotz, F. und Freund, G., 1973. Die mittelpaläolithische Geröllgeräteindustrie aus der Umgebung von Kronach in Oberfranken. Mat. Bayer. Vorgesch. 27. Kallmünz.
Freund, G. 1977: Das Paläolithikum im Donaubogen südlich Regensburg. Mat. Bayer. Vorgesch. 32. Kallmünz.
Freund, G. 1987: Das Paläolithikum der Oberneder-Höhle (Landkreis Kelheim/Donau). Quartär-Bibliothek 5. Bonn.
Freund, G. 1998: Sesselfelsgrotte I, Grabungsverlauf und Stratigraphie. Quartär-Bibliothek 8. Saarbrücken.
Herausgebertätigkeit
Freund, G. (Hg.) 1960: Festschrift für Lothar Zotz. Steinzeitfragen der Alten und Neuen Welt. Bonn.
Heller, F. 1983: Die Höhlenruine Hunas bei Hartmannshof (Landkreis Nürnberger Land) Quartär-Bibliothek 4.
Freund, G. 1987: Das Paläolithikum der Oberneder-Höhle (Landkreis Kelheim/Donau). Quartär-Bibliothek 5.
Mitherausgeberin
1967-2006: Jahrbuch QUARTÄR, 18-53/54.
Corvinus, G. 2007: Prehistoric Cultures in Nepal from the Early Palaeolithic to the Neolithic and the Quaternary Geology of the Dang-Deokhuri Dun Valleys I + II. Wiesbaden.
Weißmüller, W. 1995: Sesselfelsgrotte II, Die Silexartifakte der Unteren Schichten der Sesselfelsgrotte – Ein Beitrag zum Problem des Moustérien. Stuttgart.
Richter, J. 1997: Sesselfelsgrotte III, Der G-Schichten-Komplex der Sesselfelsgrotte – Zum Verständnis des Micoquien. Saarbrücken.
Freund, G. 1998: Sesselfelsgrotte I, Grabungsverlauf und Stratigraphie. Quartär-Bibliothek 8. Saarbrücken.
Dirian, A. 2003: Sesselfelsgrotte V, Das späte Jungpaläolithikum und das Spätpaläolithikum der oberen Schichten der Sesselfelsgrotte. Saarbrücken.
Böhner, U. 2008: Sesselfelsgrotte IV, Die Schicht E3 der Sesselfelsgrotte und die Funde aus dem Abri I am Schulerloch – Späte Micoquien-Inventare und ihre Stellung zum Moustérien. Stuttgart.
Reisch, L. und Freund, G. (Hg.) 2014: Sesselfelsgrotte VI, Naturwissenschaftliche Untersuchungen. Wirbeltierfauna 1. Stuttgart.